Nach der Jugendhilfe auf eigenen Beinen stehen

Datum: 23.10.2017 | Interview mit Rosi | geführt von Astrid Staudinger | Interview zum Download als PDF

„Mein Leben bestand immer wieder daraus:
kräftig auf die Schnauze fliegen, wieder aufstehen, aufrichten, Krone richten und weiter.“

Interview mit Careleaverin Rosi (39 Jahre alt; arbeitet als Koordinatorin im sozialen Bereich; der Name wurde auf Wunsch geändert) am 25.08.2017

Astrid Staudinger: Rosi, Du bist in einer Pflegefamilie groß geworden. Wie kam es dazu, und hast Du Deine komplette Kindheit und Jugend in der Pflegefamilie verbracht?

Rosi: Meine Eltern waren beide Alkoholiker und wenn sie betrunken waren, hoch aggressiv. Als mein Vater sich von meiner Mutter scheiden ließ, wurde die Situation unmöglich. Ich habe noch 2 Geschwister, mein Bruder wohnte die meiste Zeit bei meiner Oma, während ich und meine Schwester unmöglichen Situationen ausgesetzt waren. Wir bekamen nichts zu essen und zu trinken, ich weiß noch, dass wir mal vor lauter Verzweiflung aus einer Flasche Eierlikör getrunken haben. Meine Mutter empfing sehr viel Männerbesuch, in dieser Zeit wurde ich in den Keller gesperrt. Wenn meine Mutter total betrunken war, habe ich oft meine Schwester, die damals 3 war, unter dem Bett versteckt.

Meine Mutter war immer betrunken. Einmal hat meine Nachbarin gesehen, wie meine Mutter mir die Krusten vom Knie geschnitten hat und hat daraufhin das Jugendamt verständigt. Sie kamen erst einmal, und dann nochmal mit der Polizei, und haben uns mitgenommen, total vernachlässigt und unterernährt. Heute sieht man davon nicht mehr viel (lacht). Meine Geschwister haben wie verrückt getobt im Auto und wollten zurück,  nur ich habe sofort zu allen gesagt, dahin will ich nie wieder zu­rück.

Wir kamen dann für 3 Monate in ein Heim, und dann in eine Pflegefamilie in der ich bis 18 blieb.

So genau weiß ich diese ganzen Sachen, weil ich beim Jugendamt beantragt hatte, meine Akte zu le­sen. Viele Sachen wusste ich tief in Inneren, aber die Bestätigung habe ich durch das Lesen der Akte bekommen. Mir persönlich hat es sehr viel geholfen, sie zu lesen. Innerlich tat es unglaublich weh, und ich spuckte danach erst mal ein paar Stunden. Aber ich wusste, dass mein Weg, den ich gehe, richtig ist.

A.S.: Wie alt warst Du, als Du mit Deiner Schwester in das Heim kamst? Seid Ihr danach auch zu­sammen in die Pflegefamilie gekommen?

R.: Mein Bruder war 8, meine Schwester 3 und ich 7. Ja, wir sind alle 3 in eine Pflegefamilie gekom­men. Den Tag der Anschauung werde ich nie vergessen. Ich musste am Tisch sitzen bleiben, denn ich hatte den Nachtisch nicht gegessen. Götterspeise, ich hasse Götterspeise. Vom Speisesaal aus konnte ich in den Hof schauen und da standen die Pflegeeltern und meine Geschwister. Ich hatte so eine Pa­nik, dass sie mir weggenommen werden und dass sie einfach ohne mich gehen, dass ich den Nach­tisch runtergewürgt habe. Bis heute hasse ich Götterspeise.

A.S.: Konntet ihr drei letztlich zusammen in der Pflegefamilie bleiben und wie hat sich die Situation der Pflegefamilie weiter entwickelt? Hatte die Pflegefamilie auch eigene Kinder?

R.: Ja, wir waren zum Schluss alle drei in der Pflegefamilie. Die Pflegefamilie hatte 2 eigene Kinder. Ein Mädchen in meinem Alter und ein Junge der 2 Jahre älter war als ich.

Ja, wie hat sich das entwickelt … Heute würde ich sagen: wir hatten eine Unterkunft. Der Sohn der Familie kam überhaupt nicht mit uns zurecht,  er wollte nichts mit uns zu tun haben. Wir hatten strik­tes Verbot sein Zimmer zu betreten oder auch Sachen von ihm anzufassen. Er konnte seine absolute Abneigung gegen uns nicht verbergen. Bei der Tochter war es anders, sie akzeptierte uns eher, ob sie uns mochte, kann ich nicht sagen.

Wir waren eher Menschen 2. Klasse dort. Wir durften nur die Gästetoilette benutzen, nicht die Toi­lette im Bad, wir durften nicht aufs Sofa. Wir durften uns auch nicht wehren, denn wenn wir was sag­ten, wurde uns nur immer gesagt, da ist das Telefon, kannst anrufen, dann holen sie dich wieder ab, wenn es dir nicht passt.

Wir existierten für die Verwandtschaft eher nicht. Ganz krass war es, als ich Konfirmation hatte. Ich hatte das mit der Tochter meiner Pflegefamilie zusammen. Ich bekam so gut wie kein Geld, dafür Pralinen, aber sie konnte sich ein Klavier kaufen.

Ich durfte auch nicht das Musikinstrument lernen, dass ich wollte, sondern durfte einfach nur Flöte lernen. Da die Tochter auf die Realschule ging, musste ich auf die Hauptschule, denn Heimkinder ha­ben automatisch einen an der Klatsche und sind einfach schlechter als normale Kinder.

Schlussendlich wurde mir klar, dass ich mir verschiedene Strategien überlegen musste, zum Überle­ben. Ich versuchte unsichtbar zu sein. Ich hielt mich so oft es ging woanders auf. Bei Freunden oder in der Bücherei. Ich liebte Karl May und mit seinen Büchern von Old Shatterhand und Winnitou über­lebte ich irgendwie meine Kindheit und Teeniezeit. Ich hatte tolle Freundinnen, die immer zu mir hielten. Im Gegensatz zu meinen Geschwistern akzeptierte ich, dass ich im Augenblick nichts verän­dern kann, dass ich eine Aufenthaltsgenehmigung auf Zeit hatte, und dass ich das überall auf der Welt hatte, egal wo ich hingehen würde, dass ich nicht gewollt, sondern nur geduldet wurde. Mein Bruder kam gar nicht zurecht. Er zog mit 17 aus, die Verletzungen waren einfach zu groß für ihn und bis dahin waren Streit und Demütigungen an der Tagesordnung. Meine Schwester war ein Rebell. Sie versuchte es mit dem Kopf durch die Wand und verstand die ganze Welt  nicht, das hat sich bis heute gehalten.

Das Schlimmste für mich war, dass alle, außer uns, immer vermittelten, was wir für ein Glück hätten dass wir genommen worden sind. Und meine Pflegeeltern wurden in den Himmel gelobt und geehrt, das tat ganz schön weh und widerte mich an.

A.S.: So habt Ihr drei Geschwister drei unterschiedliche Überlebensstrategien entwickelt, um mit der belastenden Situation umzugehen …  Wie lange blieb Deine Schwester dann noch in der Pflege­familie und wann bist Du rausgegangen?

R.: Ich holte meinen Realschulabschluss nach und ging dann an den Starnberger See für ein Jahr. Dort ist ein Freizeitheim und ich war in der Hauswirtschaft. Das ist einer der wenigen Punkte, wo ich mei­ner Pflegfamilie dankbar bin, also, dass ich dorthin gekommen bin. In unserer Anfangszeit wurden wir Heimikinder immer in den Sommerferien in Erholungsurlaub geschickt, damit die Eltern mit ihren eigenen Kindern in Urlaub konnten. Auf dem Hauptbahnhof waren immer gefühlt hunderte Kinder, alle bekamen einen Beutel mit Namen drauf und wir wurden an die Ost- oder Nordsee transportiert. Furchtbar, jedes Mal dachte ich, ich sterbe jetzt.

A.S.: Mit „wir Heimikinder“ meintest Du eben Dich als Pflegekind, weil Du in der Jugendhilfe aufge­wachsen bist, oder?

R.: Naja wir wurden aus dem Heim geholt und somit wurde in alle Welt, die fragten, wo wir her kom­men, kommuniziert, dass wir Kinder aus dem Heim sind. Schnell hatten wir den Spitznamen Heimis weg. Das hat sich so verinnerlicht, dass ich immer von uns als Heimkindern spreche.

Jedenfalls kamen wir danach immer total durcheinander wieder in der Pflegefamilie an. Somit wurde mit dem Jugendamt vereinbart, dass wir auf Freizeiten an den Starnberger See durften. Das waren christliche Familienfreizeiten, erst Zeltlager und nachher Jugendfreizeiten. Das Jugendamt zahlte das, denn es war was Kirchliches. Es wurde im Urlaub mein Zuhause. Ich wurde Christ und würde sagen, das war ein unglaublich wichtiger Halt für mich und sehr wegweisend für mein weiteres Leben. Dort machte ich mein soziales Jahr. Es entwickelte sich zum Jahr des Grauens.

Ich ging im Juli und wurde im September 18 Jahre alt. 

3 Monate bevor das freiwillige soziale Jahr zu Ende ging, rief mich meine Pflegemutter an und sagte mir, dass ich nicht wieder heimkommen könnte. Mein Pflegevater war da zu diesem Zeitpunkt schon eineinhalb Jahre an einer Krankheit verstorben. Sie will mich nicht mehr, ich wäre 18 und sie be­kommt kein Geld mehr für mich und möchte jetzt das Haus für sich und ihre eigenen Kinder.

Ich wusste, dass der Zeitpunkt kommen würde, aber das war so ein Schlag ins Gesicht, diese Aussage, das schmerzte so, dass ich gar nicht drüber nachdenken konnte. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, ich war alleine, ich fühlte mich verlassen und hatte jeglichen Halt verloren. Auch wenn es da nicht toll war, aber irgendwie war es ein Ort. Jetzt hatte ich keinen Ort mehr. 6 Wochen nach dieser Nachricht, bekam ich einen Anruf, meine Tante wollte mich sprechen. Welche Tante? Ich wusste nicht mal, dass ich eine Tante hatte, bis dahin hatte ich keinen Kontakt zu meinen Eltern oder zu mei­ner echten Verwandtschaft, ich war komplett ahnungslos, was jetzt auf mich zukommen würde. Der Anruf war etwa so: Hallo [Name der Interviewten] ich bin deine Tante, du kennst mich nicht, ich muss dir leider jetzt mitteilen, dass dein Bruder tot ist, er hatte einen Autounfall. Die Polizei hatte aufgrund seines Namens versehentlich die echten Eltern informiert. Von meinen Bruder wusste sie, dass ich am Starnberger See bin, sie wohnte zu dieser Zeit in München, und hatte sich zu mir durchtelefo­niert.

Ich war betäubt, ich hatte keinen Ort mehr an dem ich hin durfte, einen toten Bruder und eine leben­dige Tante? Zuviel für mich. Meine Gedanken überschlugen sich. War der Anruf echt der Anruf mei­ner Tante? Leider bestätigte sich das Schlimmste, mein Bruder war tödlich verunglückt.

Ich fuhr mit einem Zivi, der jetzt mein bester Freund ist und der beste Ersatz-Bruder, den man haben kann, zu meiner Pflegemutter. Sie empfing mich mit meiner Schwester am Bahnhof mit den Worten: um die Beerdigung kann ich mich nicht kümmern, ich habe das erst vor ungefähr 2 Jahren gemacht, schau wie du das hinbekommst. Ich suchte einen Sarg aus, besprach mich mit dem Pfarrer, holte bei der Polizei die persönlichen Sachen von meinem Bruder ab, die über und über mit Blut voll waren. Das war der einzige Augenblick, in dem ich mir erlaubte auf das Feld zu gehen und einfach auf einem Acker zusammenzubrechen und zu weinen. Ich machte dazwischen noch 2 Bewerbungsgespräche, und dann kam der Tag der Beerdigung. Der schlimmste Weg überhaupt, und er zeigte die Kluft zwi­schen Pflegefamilie und mir und meiner Schwester sehr deutlich. Meine Schwester und ich liefen Hand in Hand hinter dem Sarg … und dann kam lange nichts. Ich glaube, keiner kapierte, wie jetzt die Reihenfolge war. Meine Schwester brach neben mir zusammen und ich dachte nur: durchhalten, durchhalten, einfach durchhalten.

Der gute Freund der mich zum Bahnhof brachte, kam mit vielen Freunden von mir zur Beerdigung, und sagte mir danach: hör zu, du kannst zu uns kommen, meine Eltern haben da eine Wohnung, wir bekommen das hin. Ein Geschenk des Himmels. Ich fuhr noch einmal hin mit einem Mercedes-Kombi, in den alle meine Habseligkeiten gingen und fuhr weg, ging nie wieder zurück und habe auch keinen Kontakt mehr.

Vor 2 Jahren bin ich umgezogen und habe einen Umzugsservice gebraucht. Stolz bin ich, was ich alles geschafft habe.

Bis heute bin ich in der Familie meines besten Freundes drin, als würde ich dazugehören, darf auf alle Feste mit und werde nicht als Mensch der 2. Klasse behandelt, sondern als würde ich da hingehören.

Dort entstand auch eine tiefe Freundschaft zu seiner Cousine, die für mich alles bedeutet, und mir sehr viel geholfen hat. Mein Glaube, diese Familie und die tiefen Freundschaften in ganz Deutsch­land, die ich habe, haben mich das alles packen lassen. Manchmal weiß ich nicht, wie ich die Kraft hatte, weiterzuleben. Ich wäre manchmal am liebsten gestorben, soviel Kraft kostete mich das alles.

Meine Schwester wurde im selben Jahr nach [nennt eine Großstadt] von meiner Pflegemutter ge­schickt, um eine hauswirtschaftliche Ausbildung zu machen. Sie ging im Sommer und wurde im Ja­nuar 18. An ihrem Geburtstag wurde ich angerufen, ich soll kommen und das Zimmer auflösen und ihre Schulden zahlen, meine Schwester wäre verschwunden. Mit Freunden fuhr ich dahin, zahlte die Schulden und suchte meine Schwester. Ich wusste nur, sie ist mit einem Mann weg, türkischer Ab­stammung und sein Vater hat einen Dönerladen. So klapperte ich Dönerläden ab. Zum Glück ist das Netzwerk sensationell. Wir hatten Erfolg, ich fand den Vater und er gab mir eine Adresse.

Ich fuhr zu einem total verlassenen heruntergekommenen Fabrikgelände. Dort in einer Arbeiterwoh­nung fand ich meine Schwester, schwanger, und sie verweigerte sich mir total.

Inzwischen hat sie 4 Kinder und ist geschieden.

A.S.: Du hast ja recht schlagartig, wenn schon nicht die Familie im emotionalen Sinn verloren, aber eben doch Deinen Ort, den Lebensort. Eine Ausbildung hattest Du noch nicht, also konntest Du noch nicht selbst für Dich sorgen. Wie ging das weiter, unterstützte Dich z.B. das Jugendamt?

R.: Gar nicht, ich habe noch eine Art Abschlussrechnung bekommen und danach nie wieder was vom Jugendamt gehört. Ich hatte einen Kredit nach dem anderen, damit ich leben konnte. Ich ging davon aus, dass es normal ist, das Jugendamt hatte ja die ganze Zeit für mich gezahlt. Dass es heute so was wie die Careleaver-Programme gibt, rührt mein Herz ganz arg, und ich bin froh zu wissen, für alle die aus dem System fallen, dass es einfach doch noch was gibt.

A.S.: Ja und nur, dass jemand volljährig wird, ist kein zwingender Grund, dass damit auch die Ju­gendhilfe beendet werden muss. Egal ob die Betreuung in der Pflegefamilie stattfindet oder in ei­ner stationären Wohngruppe, es kommt darauf an, ob jemand die Hilfe noch braucht und will.

R.: Das wurde mir so erst vor einem halben Jahr bewusst, als mich meine Kollegin anrief, und mir von der Careleaver-Bewegung erzählte. Davor wusste ich nichts, ich dachte ich muss da alleine durch.

A.S.: Welche Rolle spielte die Beratung und Begleitung des Jugendamtes für Dich, während Du in der Pflegefamilie gelebt hast? Gab es eine durch das Jugendamt organisierte Zusammenarbeit, z.B. einen begleiteten Umgang mit Deiner leiblichen Familie? Wie hast Du die Hilfekonferenzen mit dem Jugendamt erlebt?

R.: Gefühlt habe ich vom Jugendamt nicht viel mitbekommen. Ein Protokoll habe ich mal in die Fin­ger bekommen und aufbewahrt. Damals dachte ich, dass es aufgrund dessen, dass mein Pflegevater an Krebs erkrankt ist, stattfindet. Ich war damals ziemlich verstört, dass sich die Pflegefamilie über­legt, ob sie mich weg gibt aufgrund der Krankheit. Und dann die Frage, ob ich bei der Pflegefamilie bleiben will, hat mich sehr irritiert, denn: wohin sollte ich denn gehen? Ich kann mich nicht mehr an Gespräche erinnern, gefühlt war das Jugendamt für mich nur da, wenn ich einen Schrank, Schulland­heim oder sonstige Sachen genehmigt haben wollte. Hilfekonferenzen oder so, habe ich nur eine wirklich erlebt. Fast zum Schluss meiner Zeit, dort in der Pflegefamilie, das war die, als mein Pflege­vater schon krebskrank war.

A.S.: Konntest Du danach trotzdem noch in der Familie bleiben und hat die Pflegefamilie im Vor­feld dieser Hilfekonferenz mit Dir über die Belastung durch die Krankheit des Pflegevaters und ihre Überlegungen, Dich nicht länger bei sich haben zu wollen, gesprochen?

R.: Ich konnte trotzdem bleiben. Es war nur noch ein Jahr, bis ich mit der Schule fertig war und mein soziales Jahr beginnen wollte. Gesprochen wurde mit uns nie über die Krankheit und auch nicht dar­über, dass der Gedanke da war, uns deswegen wegzugeben. Erst durch die Frage bei der Hilfekonfe­renz wurde ich darauf aufmerksam. Wir wurden mit der Krankheit nun komplett ausgeschlossen, noch mehr, wie es sowieso schon der Fall war. Wenn er im Krankenhaus war, ging nur die eigene Fa­milie, wir existierten eigentlich gar nicht mehr. Es gab nur noch die kleine echte Familie und die Krankheit.

A.S.: Eine emotionale Ersatzfamilie war das nicht, was Du beschreibst. Was denkst Du, war die Mo­tivation der Pflegefamilie, Dich und Deine Geschwister aufzunehmen?

R.: Zusammen gab es doch eine ganze Stange Geld für uns. Ich denke, die Beweggründe waren diese. In einem Telefonat habe ich mal mitbekommen, dass die Raten für das Haus ohne das Pflegegeld nicht möglich gewesen wären.

A.S: Bei uns im Projekt befassen wir uns intensiv mit dem Übergang aus der Jugendhilfe in das ei­genverantwortliche Leben. Mir scheint, Du hast zum Glück diese Ersatzfamilie durch Deinen besten Freund gefunden, aber ansonsten warst Du viel auf Dich gestellt. Du hast ja auch von Krediten ge­schrieben, die Du aufgenommen hast … Wie ist der Übergang in das eigenverantwortliche Leben gelaufen? Wer hat Dich wie unterstützt und wie bist Du in eine eigene Wohnung gekommen?

R.: Der Übergang war furchtbar emotional. Ich war am Boden, ich war irgendwo orientierungslos und verzweifelt und mit meinem Konto total im Minus. Ich dachte oft, ich schaffe es nicht und die Kraft reicht gar nicht.

Meine erste Wohnung hatte ich bei den Eltern meines besten Freundes, die hatten eine kleine, aber feine Mietwohnung. Wie genau ich Wohnung und Führerschein mit meinem Azubigeld, ich lernte Arzthelferin, geschafft habe, weiß ich nicht so genau, naja sagen wir so, ich hatte schon immer Schul­den.

Ich habe jahrelang noch einen Nebenjob gehabt.  Viele Ratschläge und Tipps habe ich vom besten Freund und seinen Eltern bekommen und unterstützt hat mich die komplette Familie meines besten Freundes, mit Tanten, Onkel und was noch zum Clan gehörte.

Meine Freundin ist ein Finanzgenie und hat mich bei finanziellen Sachen sehr gut beraten, bis dahin, dass ich jetzt in meiner eigenen Wohnung wohne und die abzahle, mit genau so viel, wie ich vorher an Miete gezahlt habe. Mein Konto ist zwar immer noch im roten Bereich, es wird aber von Jahr zu Jahr besser. Viel Unterstützung und sozialen Halt habe ich in meiner Kirchengemeinde erhalten.

Ich habe nicht viele, aber unglaublich tiefe Freundschaften, die bis in den hohen Norden gehen. Sie begleiten mich, und helfen mir, wo sie nur können. Sie wertschätzen mich und eines der wertvollsten Geschenke, die ich je erhalten habe ist, dass ich durch meine Freundschaften gelernt habe, dass es ihnen egal ist, wo ich herkomme, dass ich ihnen wichtig bin und wertvoll. Das Gefühl, Mensch 2. Klasse zu sein, überfällt mich immer wieder, aber ich kann es doch gut abschütteln.

Mein Leben bestand immer wieder daraus: kräftig auf die Schnauze fliegen, wieder aufstehen, auf­richten, Krone richten und weiter.

A.S.: Das klingt gleichzeitig nach einem sehr guten Motto. Ich danke Dir für Deine Offenheit und Deine Zeit und wünsche Dir alles Gute.

 

Astrid Staudinger
Careleaver-Kompetenznetz
Familien für Kinder gGmbH
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