Datum: 12.04.2016 | Interview mit Cecille | geführt von Astrid Staudinger | Interview zum Download als PDF
Die Careleaverin Cecille ist 26 Jahre alt. Sie hat ihren Bachelor abgeschlossen und setzt sich aktiv für die Belange von Careleavern ein
Astrid Staudinger: Cecille [Name wurde auf Wunsch geändert], wie alt bist Du, und was machst Du zurzeit?
Cecille: Ich bin 26 und habe gerade meinen Bachelor abgeschlossen. Momentan arbeite ich noch an der Uni, aber der Vertrag läuft bald aus. Danach plane ich erst einmal, ein wenig zu reisen, bevor ich mich nach einem Job umsehe.
A.S.: Du bist Careleaverin. Wie lange hast Du in welcher Hilfeform verbracht?
Cecille: Ich habe zwei Jahre in einer betreuten Wohngruppe gelebt, also einer Wohngruppe, in der immer ein Erzieher oder Sozialpädagoge als Ansprechpartner zur Verfügung stand, und wo wir auch gemeinsam gegessen haben. Ansonsten war der Tagesablauf recht frei. Vormittags sollten wir in die Schule gehen und der Nachmittag stand zu unserer freien Verfügung. Insgesamt war die Wohngruppe auf 6 Jugendliche (ca. 14-18 Jahre) ausgelegt.
A.S.: Was war positiv an dieser Zeit, was eher negativ? Konntest Du „was mitnehmen“?
Cecille: Ich habe mich mit den meisten Pädagogen dort gut verstanden und mich daher viel wohler gefühlt als zu Hause. Mit den anderen Jugendlichen war ich zwar nicht eng befreundet, aber ich wurde in Ruhe gelassen und respektiert. Ich denke, ich habe auf jeden Fall Selbstständigkeit gelernt. Also selbst zu kochen, zu waschen, mir mein Geld einzuteilen. Außerdem habe ich auch durch die anderen Jugendlichen viel gelernt. Ich war damals die Einzige, die aufs Gymnasium gegangen ist, und meine Freunde dort waren gut situiert, mit großen Lebensträumen. Ich komme auch eher aus einer bürgerlichen Familie. Die Jugendlichen, die ich dort kennengelernt habe, hatten oft viel traumatischere Erlebnisse hinter sich als ich, sie waren sehr desillusioniert. Ich kann nicht im Detail sagen, was ich daraus mitgenommen habe, aber die Erfahrungen haben mich auf jeden Fall sehr geprägt.
Negativ war, dass wir alle, die Jugendlichen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Opfer der Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe waren. Dadurch war die Wohngruppe meist unterbesetzt. Es war nicht möglich, dass ein, geschweige denn zwei Jugendliche, die gleichzeitig individuelle Hilfe benötigten, die auch bekommen konnten.
Mit dem Leiter meines Trägers habe ich mich nicht sonderlich gut verstanden. Im Alltag war das glücklicherweise nicht wichtig, da er nicht in meiner Einrichtung gearbeitet hat, aber für die Hilfeplangespräche (HPG) war es nicht gerade förderlich.
A.S.: Wann endete Deine Hilfe? Kam nach der Wohngruppe noch ein Betreutes Einzelwohnen oder warst Du direkt auf Dich gestellt?
Cecille: Das Problem war, dass ich weder mit meiner Betreuerin vom Jugendamt noch mit dem Leiter meines Trägers gut ausgekommen bin. Ich hatte zu der Zeit auch eine diagnostizierte Magersucht und habe am Ende recht viel abgenommen. Daraufhin bekam ich in meinem HPG kurz vor meinem 18. Geburtstag die „Möglichkeit“, innerhalb von 4 Wochen 6 Kilo zuzunehmen. Dann wäre die Hilfe wohl verlängert worden. Meine Bezugsperson und ich wussten aber, dass ich das nicht schaffen würde und so haben wir die Zeit genutzt, um einen Klinikaufenthalt zu planen.
Tatsächlich war ich danach auch noch 3 Monate im therapeutischen Wohnen, allerdings in einer anderen Stadt. Da es dort leider auch nicht so gut lief, musste ich erneut 8 Wochen in eine psychosomatische Klinik. Danach meinte die Betreuerin vom Jugendamt, sie sei nicht mehr für mich zuständig, da ich seit 3 Monaten in einer neuen Stadt wohnen würde. Als ich mich an das dortige Jugendamt wandte, wurde ich auch ziemlich schnell abserviert.
A.S.: Und was passierte dann? Also, wie hast Du beispielsweise den Umzug organisiert, wer hatte ein Fahrzeug und wer hat das bezahlt? Und weißt Du noch, ob Du vom Jugendamt Geld für die Erstausstattung, ich meine Möbel, Waschmaschine, Kühlschrank und so, erhalten hast?
Cecille: Als ich die therapeutische Wohngruppe verlassen habe, habe ich all meine Sachen mit einem Taxi in die Klinik gebracht. Das hat damals die Wohngruppe gezahlt. Für die anderen Patienten war das natürlich ein bisschen komisch, dass ich so viel Gepäck dabei hatte, die haben nicht verstanden, dass das mein gesamter Hausrat war. Als ich aus der Klinik entlassen wurde und klar war, dass ich keine weitere Unterstützung erhalte, habe ich mir von der Klinik aus eigenständig eine WG und eine Schule gesucht. Das Zimmer war möbliert und eine Patientin, die ich in der Klinik kennengelernt hatte, hat mir mit ihrem Auto meine Sachen dorthin gefahren.
Finanziell hatte ich zudem das große Glück, dass mein Vater genug Geld verdiente, um mir Unterhalt zu zahlen und es nicht auf eine Klage anlassen kommen wollte. Daher habe ich mich auch diesbezüglich nicht mehr ans Jugendamt oder andere staatliche Stellen wie das Jobcenter gewandt. Ich kann nur empfehlen, immer auf seinem Recht auf Unterhalt zu bestehen, auch wenn man vielleicht nicht das Gefühl hat, es verdient zu haben. Das ist natürlich schwierig und es hat sich auch nicht gut angefühlt, das Geld von meinem Vater zu nehmen.
A.S.: Das klingt ja nach einem recht schwierigen Übergang für Dich. Letztlich wurde die Situation nur dadurch „gelöst“, dass Du materiell nicht mehr auf die Jugendhilfe angewiesen warst. Wie bist Du denn, abgesehen vom materiellen Aspekt, nach dem Jugendhilfeende klargekommen?
Cecille: Besser als ich dachte. Ich glaube, das hat viel mit dem Ortswechsel zu tun gehabt und mit den tollen Leuten, die ich an meiner Schule kennengelernt habe. Zudem war ich fest entschlossen, mein Abitur zu schaffen. Während meiner Schulzeit habe ich außerdem noch eine ambulante Therapie gemacht.
Nach dem Abitur sind dann viele meiner Freunde ins Ausland gegangen, einige haben sogar dort ein Studium aufgenommen. Das hat mich ziemlich zurückgeworfen. Therapeutische Unterstützung wollte ich zu dieser Zeit nicht und so war mein Leben tatsächlich erst mal sehr chaotisch. Meine Freunde haben sich daran gewöhnt, dass ich so eine Chaostante bin. Aber ich hoffe eigentlich, dass ich es irgendwie schaffen kann, ein wenig mehr Ruhe und Klarheit in mein Leben zu bringen.
A.S.: Du bist gut, ich meine: „Ruhe und Klarheit“ ins Leben bringen … Immerhin hast Du Dein Studium geschafft und das ist bestimmt noch lange nicht alles. Du engagierst Dich ja beispielsweise ehrenamtlich in Careleaver-Netzwerken, und setzt Dich damit unter anderem auch dafür ein, dass Jugendhilfe besser wird. Wie bist Du dazu gekommen?
Cecille: Die wissenschaftlichen Mitarbeiter von dem Projekt aus der Uni Hildesheim hatten Kontakt zu meinem ersten Träger und daraufhin hat mich meine damalige Therapeutin angeschrieben, ob das nicht für mich passen würde. Ich habe mich dann interviewen lassen, war aber anfangs sehr skeptisch, ob das für mich passen würde. Viele Careleaver waren länger in der Jugendhilfe, sie hatten keinen so chaotischen Abgang und mehr finanzielle Probleme. Trotzdem finde ich mich natürlich in vielen Themen wieder und manchmal gibt es auch biographische Parallelen. Das tut wahnsinnig gut, denn im Alltag habe ich noch nie jemanden mit Jugendhilfeerfahrung kennengelernt.
Im Careleaver-Verein habe ich eine Zeitlang mitgeholfen, die Facebookseite zu verwalten. Zudem habe ich auf Veranstaltungen verschiedener Träger unseren Verein und unsere Forderungen vorgestellt.
Für mich ist es sehr wichtig, die Öffentlichkeit, Träger und Jugendämter für unsere Arbeit und unsere Anliegen zu sensibilisieren und gemeinsam politischen Druck für eine Verbesserung unserer Situation auszuüben. Zudem ist es wichtig, dass wir uns gegenseitig so gut wie möglich unterstützen. Tatsächlich möchte ich auch mehr machen, doch manchmal schaffe ich es einfach nicht, dies mit meinem Studium und meinem Job zu vereinbaren. Aber die Arbeit wird sicherlich nicht so schnell enden, denn es gibt noch sehr viel zu verbessern. Dies kann man an unserem Positionspapier sehen - oder wenn man in der Jugendhilfe arbeitet.
A.S.: Im Careleaver Kompetenznetz beschäftigen wir uns viel mit dem Thema Beteiligung und Hilfeplanung. Dabei haben wir gemerkt, dass viele Jugendliche ihre Rechte und Beteiligungsmöglichkeiten gar nicht, oder jedenfalls nicht ausreichend kennen. Wie sind Deine Hilfeplangespräche verlaufen? Und weißt Du noch, wie die Trägerberichte entstanden sind bzw. welche Rolle die Hilfepläne und die Hilfeplanziele für Dich spielten?
Cecille: Puh, das ist ja nun schon eine Weile her. Ich erinnere mich noch, dass meine Bezugsperson und ich uns davor und auch danach immer zusammengesetzt haben. Davor haben wir meist grob besprochen, was wohl Thema sein wird und auch schon mal ein wenig geschaut, ob die Ziele vom letzten Mal erreicht wurden bzw. wo ich noch Probleme habe. Das Zusammensitzen danach war meist nötig, da ich mich während der HPGs oft sehr unwohl gefühlt habe. Es wurde oft von oben herab mit mir gesprochen. Der Leiter der Jugendwohngruppe und die Betreuerin vom Jugendamt hatten beide wenig Einfühlungsvermögen, was meine Essstörung anging. Zudem kam die Betreuerin vom Jugendamt auch oft zu spät zu den HPGs, weshalb die Zeit oft knapp war. Sie hat, glaube ich, auch bis zum Ende nicht eingesehen, dass die Hilfe notwendig war, da sie meinen Vater sehr sympathisch fand und der Maßnahme nur zugestimmt hat, weil ein ambulanter Sozialarbeiter, der mich kannte, ihr Druck gemacht hat. Bei ihr habe ich mich wirklich gefragt, warum sie angefangen hat, beim Jugendamt zu arbeiten. Bei den HPGs waren immer sie, der Leiter der Einrichtung sowie einer meiner beiden Bezugspersonen dabei. Wie gesagt, danach habe ich mich meist mit meiner Bezugsperson zusammengesetzt und zur Beruhigung einen Tee getrunken oder eine Zigarette geraucht. Mit der einen konnte ich auch ganz gut über die Betreuerin vom Jugendamt lästern. Da die Atmosphäre während der HPGs meist schlecht war und wenig Zeit vorhanden war, habe ich die HPGs in eher schlechter Erinnerung bzw. erfolgreich verdrängt.
A.S.: Du sagst „Bezugsperson“… war Euer Verhältnis gut? Und nach der Beendigung der Jugendhilfe, gab es da weiterhin Kontakt zu Deiner Bezugsperson und/oder anderen Menschen aus der ehemaligen Einrichtung? Oder endete der Kontakt mit der Jugendhilfe?
Cecille: Tatsächlich hatte ich sogar zwei Bezugspersonen, da es eine Zeitlang mit den Zuständigkeiten etwas hin- und herging. Ich habe mich mit beiden sehr gut verstanden. Die eine war eher etwas distanzierter und rationaler, mit der anderen war ich sehr stark auf einer Wellenlänge, was bei Konflikten aber auch schwierig sein konnte. Zu meinem Auszug habe ich auch ein Heft bekommen, in dem mir jeder eine Seite gestaltet hat, auch die anderen Jugendlichen. Das habe ich noch immer und bin wirklich froh, dass das trotz der unglücklichen Beendigung aus der Wohngruppe zustande kam. Trotzdem habe ich danach keinen Kontakt mehr gehabt. Ich habe noch zwei – bis dreimal versucht, telefonisch jemanden zu erreichen, aber es war immer viel zu viel los, als dass ein Gespräch möglich gewesen wäre. Mit den Jugendlichen hat mich auch zu wenig verbunden. Obwohl mich natürlich interessieren würde, was so aus ihnen geworden ist.
A.S.: Als eine in der Careleaver-Bewegung aktive Frau hast Du bestimmt auch Verbesserungsvorschläge für Träger, Jugendämter und Politik. Was sind Deine Forderungen, bezogen auf die allgemeine Situation? Und was hättest Du Dir individuell in Deiner Jugendhilfezeit bzw. bei Deinem Übergang in die Selbstständigkeit anders/zusätzlich gewünscht?
Cecille: Zu allererst wünsche ich mir mehr Geld für die Jugendhilfeträger bzw. mehr Stellen. Die Pädagogen, die in meiner Einrichtung gearbeitet haben, waren fast alle super. Damit meine ich nicht, dass ich mich mit allen verstanden habe, sondern dass sie mit viel Engagement ihrem Job nachgekommen sind. Aber ich habe schon damals gemerkt, wie sehr der Job an den Nerven zehrt, wenn es eine reale Unterbesetzung gibt.
Zudem würde ich mir wünschen, dass es mehr Anlaufstellen für junge Erwachsene gibt, also Menschen, zwischen 18 und 27 Jahren. In dieser Zeit gibt es so viele Umbrüche, oft treten auch überwunden geglaubte Probleme neu zum Vorschein. Beispielsweise beim BaföG, bei jedem Umzug, gegebenenfalls auch bei Unterhaltszahlungen oder Todesfall eines Elternteiles. Sicherlich sind das Themen, die auch später noch auftreten können, aber als junger Mensch ist das soziale Umfeld meist noch recht klein, die finanzielle Lage prekär.
Für mich ist es unglaublich, wie wenig Bewusstsein dafür vorhanden ist. Es geht mir nicht darum, dass jeder Jugendliche seinen eigenen Sozialarbeiter bekommt, aber eine allgemeine Anlaufstelle beispielsweise vom Jugendamt, die sich diesbezüglich auch auskennt, wäre toll. Zudem würde ich mir wünschen, dass Jugendliche in Jugendhilfeeinrichtungen mehr über ihre Rechte erfahren.
Für diese Forderungen braucht man selbstverständlich mehr Geld. Ich würde mir wünschen, dass es in der Politik selbstverständlich ist, hier Geld auszugeben. Doch abgesehen davon, kann man auch ökonomisch argumentieren, dass man durch eine Investition in die Verselbstständigung junger Menschen neue Steuerzahler schafft.
Ich persönlich würde mir auch sehr wünschen, dass man sich von den leiblichen Eltern „scheiden“ lassen kann, insbesondere was meine Mutter angeht, wäre mir das wichtig. Hierfür muss sich auch das gesellschaftliche Bild von Familie ändern. Es ist „common sense“, dass die Familie eine kleine, heimelige Gemeinschaft ist, die auch finanziell für einander aufkommt. Meiner Meinung nach kann aber nicht die genetische Verbindung zweier Menschen ausschlaggebend dafür sein, ob man für den anderen finanziell aufkommt. Insbesondere, wenn es im Vorfeld zu Vernachlässigung, Gewalterfahrungen oder ähnlichem gekommen ist, bzw. wenn der entsprechende Elternteil Unterhaltszahlungen unterlassen hat. Ich kann einsehen, dass das rechtlich schwierig umzusetzen ist, aber momentan gibt es noch zu wenig Gesetze, in der die Situation schwieriger Familienverhältnisse berücksichtigt wird.
A.S.: Wow, das war ja viel und sehr substanziell! Danke für das Interview und alles Gute für Dich.
Astrid Staudinger
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